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Wertschätzung – wie viele Assoziationen doch allein der Anblick des Wortes auslöst!

 

Vom „Wert“ gleitet man schnell zu „wertvoll“, „wertig“, „wichtig“ und „besonders“, von „der Schätzung“ und „dem Schätzen“ schnell zum „Schatz“, der wiederum zum „Wert“ zurückführt, aber auch zu „Reichtum“, „Macht“, „Anerkennung“ und „Respekt“.

Und das ist nur ein ganz kleiner Anfang einer langen Reihe von Bedeutungen, die mitschwingen.

 

Das Wort allein lässt also schnell vermuten, dass es sich hier um ein bedeutsames Wort handelt, ein Schwergewicht unter den Wörtern.

Mit solchen Wörtern gilt es behutsam umzugehen, sie genauer zu betrachten und v. a., sie nicht einfach so herauszuposaunen oder inflationär zu ver(sch)wenden.

Ja, nimmt man die Wertschätzung beim Wort, fordert sie genau das ein, was sie zum Ausdruck bringt: Sie will wertgeschätzt werden.

 

Tun wir Wertschätzenden das? Sind wir uns der Relevanz bewusst, die die Verwendung dieses Wortes mit sich bringt? Mir erscheint, dass diesbezüglich eine große Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis herrscht, die zu überwinden – oder zumindest zu verkleinern – angesagt wäre.

 

Was wird in der Theorie nicht alles wertgeschätzt, also gewürdigt, geachtet, anerkannt, respektiert:

Alte Menschen, junge Menschen und solche, die sich für andere einsetzen; Höflichkeit, Ehrlichkeit und viele andere Tugenden; gute Erfahrungen und schlechte Erfahrungen; Freunde und Familie; die Natur und die Technik ...

Wir wertschätzen Dinge, Werte, Lebewesen häufig, umfassend und oftmals auch, ohne uns der Konsequenz und der Verantwortung, die das Wertschätzen eigentlich mit sich bringen sollte, bewusst zu sein. Wir wertschätzen häufig zu theoretisch. Wir stellen der Wertschätzung zu selten die Begleiter an die Seite, die sie glaubwürdig machen: Zuwendung, Unterstützung, Respekt, Verantwortungsgefühl, Teilnahme, Stellungnahme, Nachsicht, Verständnis.

 

Wäre es nicht wünschenswert, wenn wir ein bisschen konsequenter mit der praktischen Umsetzung unserer theoretischen Wertschätzung umgehen würden?

Was bleibt denn vom Wert der Wertschätzung, wenn sie sich uns nur in Worten präsentiert, ihr aber keine Taten folgen?

 

Um nur einige Beispiele zu nennen:

Was bleibt der Altenpflegerin, wenn man ihr sagt, wie sehr man ihre Arbeit am Patienten wertschätzt und ihr im selben Zuge auferlegt, pro Patient nicht mehr als 5,34 Minuten aufzuwenden? Wohin verflüchtigt sich die Wertschätzung für den Lehrer, wenn sie da aufhört, wo das Kind die erste schlechte Note bekommt? Worin liegt die Essenz unserer Wertschätzung für eine intakte Umwelt, wenn der 1 km lange Weg zum Supermarkt mit dem Auto statt mit dem Fahrrad zurückgelegt wird? Wo bleibt die Wertschätzung für die Herkulesaufgabe der Alleinerziehenden, wenn die Arbeit unerledigt bleibt, weil das Kind mit 40° Fieber im Bett liegt?

 

Die Frage, die sich doch des Öfteren stellt, lautet: Was bleibt in der Praxis von der Wertschätzung übrig?

Sicher immer noch mehr als nichts, aber oft auch nicht viel mehr als von einem Tropfen Wasser, der auf einer heißen Herdplatte verpufft. Ein kurzes, von Zischen begleitetes Aufhorchen - wenig mehr. Und wenig nachhaltig.

Warum tun wir uns in der Theorie so leicht, etwas zu wertschätzen, aber in der Praxis so schwer? Hat es damit zu tun, dass wir keine Einheit kennen, in der man die Wertschätzung misst?

 

 

Was aber, wenn wir anfingen, unserer oftmals ach so leicht dahingeredeten Wertschätzung echte Taten folgen zu lassen? Wenn wir die Menschen, Dinge, Werte, die wir wertschätzen, wirklich umfassend anfingen zu achten, zu schätzen, zu hegen und zu pflegen? Wenn wir ihnen in aller Konsequenz den Respekt zollten, den wir ihnen mit der lapidar dahergeschwätzten Wertschätzung vorgaukeln? Wenn wir für das, was wir wertschätzen, öfter auch ein Stück weit Verantwortung übernähmen? Wenn wir uns häufiger fragten, wie und warum wir wertschätzen (wollen)?

 

Vermutlich würde eine noch bessere Gesellschaft entstehen, eine, die einige grundlegende Wertigkeiten neu justieren und definieren müsste, die noch gerechter wäre und weniger geldgetrieben, die noch freundlicher, wärmer und menschlicher wäre, kurz: Eine Gesellschaft, die noch lebenswerter wäre.

 

Natürlich lässt sich das Wertschätzen nicht immer und in jedem Falle konsequent umsetzen, zumal es unweigerlich zu Interessenskonflikten führt.

Wie entscheide ich mich beispielsweise, wenn ich die Ehrlichkeit ebenso wertschätze wie die Höflichkeit, aber jemanden vor mir habe, der alles andere als nett ist? Lächle ich ihn trotzdem nett an und denke mir das „du Vollidiot“ (verleihe also damit meiner Wertschätzung der Höflichkeit Ausdruck) oder sage ich ihm ins Gesicht, dass ich ihn nicht leiden kann (und wertschätze somit die Ehrlichkeit)?

In diesem Fall muss ich meine eigenen Wertigkeiten klar definieren, Entscheidungen treffen und Kompromisse schließen - auch das nur ein Teil der vielen Ansprüche, den die Wertschätzung erhebt, nimmt man sie denn ernst.

 

Es gäbe noch viel zur Wertschätzung zu sagen, da sie in so viele Bereiche hineinwirkt und uns alle betrifft, sowohl als Wertschätzende als auch als Wertgeschätzte.

Sie ist anspruchsvoll. Und vielschichtig. Und interessant. Und komplex. Und noch viel mehr...

Es lohnt sich also, sich mit der Wertschätzung zu beschäftigen und ihr all das zukommen zu lassen, was sie selbst zum Ausdruck bringt, damit sie wachsen und gedeihen kann. 

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